»Ist der Border Collie gefährlich?«, lautet eine der Fragen, die der Redakteur mir stellt. Über Expertenmeinungen, Eigenverantwortung und die Frage, ob man zu alt für einen Hund sein kann …

Das Vibrie­ren des Mobil­te­le­fons klingt wütend, den­ke ich, als ich aus der Mit­tags­pau­se an mei­nen Schreib­tisch zurück­keh­re – füge in Gedan­ken jedoch gleich hin­zu, dass ein unbe­leb­ter Gegen­stand, wie ein Mobil­te­le­fon, zu sol­chen Gefühls­re­gun­gen kaum fähig sein wird –, und wer­fe einen Blick auf das Dis­play: Unbe­kann­ter Anru­fer. Kurz über­le­ge ich, den Anruf zu igno­rie­ren und mich statt­des­sen wie­der dem zu wid­men, was an die­sem Frei­tag erle­digt wer­den will – auf der Tas­ta­tur vor mir lie­gen mah­nend sie­ben dicht bedruck­te Sei­ten, die bis zur Mit­tags­pau­se nur halb gele­sen und mit Noti­zen ver­se­hen wor­den sind, bis zum inter­nen Brain-Stor­ming-Ter­min in einer Stun­de jedoch durch­ge­ar­bei­tet und ver­stan­den wer­den wol­len –, zöge­re also, neh­me aber trotz­dem ab.

Der unbe­kann­te Anru­fer stellt sich als Mit­ar­bei­ter der Lokal­re­dak­ti­on einer Tages­zei­tung vor und kommt, wäh­rend ich gedank­lich noch nach Aus­re­den suche, war­um mir gera­de wenig dar­an gele­gen ist, ein Abon­ne­ment abzu­schlie­ßen, gleich zum Punkt: »Wir haben eine Poli­zei­mel­dung aus Mün­ders­bach bei Hach­en­burg vor­lie­gen, die einen Bor­der Col­lie betrifft …«

Ich sto­ße mich mit dem Dreh­stuhl vom Schreib­tisch ab und bin im glei­chen Moment auf den Bei­nen. Ein Ver­kehrs­un­fall, echot es in mei­nem Kopf – dazu Bil­der von Fell und Kno­chen, blut­rot, eine Land­stra­ße, und … aber war­um soll­te sich einer unse­rer Hun­de dort­hin ver­ir­ren? Renn­er­od und Mün­ders­bach lie­gen zwar bei­de im Wes­ter­wald, aber bei­na­he vier­zig Kilo­me­ter von­ein­an­der ent­fernt. Und war­um ruft mich die Pres­se, nicht die Poli­zei an? Das Ver­le­sen der Mel­dung unter­bricht schließ­lich mei­ne Gedanken.

Am Don­ners­tag, 23. April, um 10.30 Uhr wur­den in Mün­ders­bach, in der Schwimm­bad­stra­ße, zwei älte­re Frau­en durch Hun­de­bis­se schwer ver­letzt. Eine 75jährige Frau ging wie gewohnt mit dem fried­li­chen Bor­der Col­lie ihrer 70jährigen Bekann­ten spa­zie­ren. Vor dem Haus der Hun­de­be­sit­ze­rin woll­te der Hund einer Kat­ze nach­ei­len. Als die Frau die Lei­ne wei­ter fest­hielt, wur­de sie plötz­lich von dem Hund mehr­fach in bei­de Unter­ar­me gebis­sen. Im wei­te­ren Ver­lauf wur­de auch die zur Hil­fe eilen­de Hun­de­be­sit­ze­rin von ihrem Hund mehr­fach in den Arm gebis­sen. Die bei­den Frau­en erlit­ten jeweils schwe­re Verletzungen.

Pres­se­mel­dung der Polizeiinspektion
Hach­en­burg, 24. April 2015

Als Züch­ter, heißt es, kön­ne mei­ne Ein­schät­zung dazu bei­tra­gen, den Vor­fall rich­tig ein­zu­ord­nen – man wis­se zwar, dass die Ras­se selbst als unge­fähr­lich gel­te, sei bei den Recher­chen jedoch auf eine Exper­ten­mei­nung ange­wie­sen. Ich atme aus. Kei­ner von mei­nen Hun­den, kein Hund aus mei­ner Zucht. Dass man mich als Exper­ten bezeich­net, neh­me ich nur gedämpft wahr.
+++++»Was sagen Sie dazu?«
+++++»Erst ein­mal fin­de ich es schwie­rig, eine Fern­dia­gno­se zu stel­len«, sage ich und räus­pe­re mich, wäh­rend ich mit dem Mobil­te­le­fon in der Hand unschlüs­sig durch den Raum wan­de­re, »ich ken­ne weder Hund noch Hal­te­rin, auch kann ich mir kein Bild von den Lebens­um­stän­den machen, weiß also nicht, wie der Hund gehal­ten oder auf­ge­zo­gen wor­den ist …«
+++++»Erklä­ren kön­nen Sie sich den Vor­fall also nicht?«
+++++»Dass ein Hund in einer Stress­si­tua­ti­on im Affekt zuschnappt, kann – unab­hän­gig von der Ras­se – immer pas­sie­ren. Von der Bekann­ten der Besit­ze­rin bedrängt zu wer­den kann für den Hund eine sol­che Stress­si­tua­ti­on gewe­sen sein. Bedenk­lich fin­de ich, dass der Hund auch die Besit­ze­rin selbst ange­grif­fen hat – das soll­te nicht pas­sie­ren und klingt für mich nach einer gestör­ten Bezie­hung zwi­schen Hund und Halterin.«

»Ist der Bor­der Col­lie gefährlich?«
+++++»Nein. Ich den­ke aber, dass die Beson­der­hei­ten der Ras­se oft­mals unter­schätzt und Hun­de ohne Rück­sicht auf ihre Anfor­de­run­gen ange­schafft und gehal­ten wer­den. Der Bor­der Col­lie ist ein intel­li­gen­ter Hund, der in ers­ter Linie zum Arbei­ten gezüch­tet wur­de – er will also ent­spre­chend gefor­dert und aus­ge­las­tet wer­den. Bie­tet man dem Hund die­se Aus­las­tung nicht, kann das ansons­ten gut­mü­ti­ge Wesen unter Umstän­den ins Gegen­teil, in aggres­si­ves Ver­hal­ten kippen.«
+++++Ich den­ke kurz dar­über nach, das fort­ge­schrit­te­ne Alter der Hal­te­rin zu hin­ter­fra­gen und zu erzäh­len, dass vor Jah­ren ein Ehe­paar im glei­chen Alter wegen eines Wel­pen bei mir anfrag­te (bei­de blick­ten zwar auf lang­jäh­ri­ge Hun­de­er­fah­rung zurück, waren aber in ihrer Mobi­li­tät stark ein­ge­schränkt, wes­halb ich ihnen drin­gend davon abriet, sich einen Bor­der Col­lie anzu­schaf­fen), belas­se es jedoch dabei.

Die Zei­tung klemmt zusam­men mit der Bröt­chen­tü­te unter mei­nem Arm, als ich am Sams­tag­mor­gen mit den Hun­den vom Spa­zier­gang wie­der­kom­me. Die Luft ist feucht, das Papier gewellt. Regen­trop­fen auf der Titel­sei­te. Zwei Frau­en bei Beiß­at­ta­cke schwer ver­letzt, lau­tet die Schlag­zei­le gleich unter dem Zei­tungs­kopf. Den dazu­ge­hö­ri­gen Arti­kel über­flie­ge ich kurz, wäh­rend ich die Hun­de füt­te­re – der Bor­der Col­lie wur­de nach der Atta­cke von einem Tier­arzt noch vor Ort ein­ge­schlä­fert, erfah­re ich kopf­schüt­telnd –, dann bleibt die Zei­tung auf­ge­schla­gen auf dem Küchen­tisch lie­gen. Ist es rich­tig, ein Tier zu töten, des­sen Fehl­ver­hal­ten viel­leicht nur den Umstän­den anzu­las­ten ist?, fra­ge ich mich. Hät­te ich einen mei­ner Wel­pen einer der bei­den Frau­en anver­traut? Wer­den Ent­schei­dun­gen immer ver­ant­wort­lich und im Inter­es­se des Hun­des getroffen?

Nein, nein und nein. Viel­leicht ist allein das mei­ne Expertenmeinung.

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