Und sie spra­chen untereinander:
Wer wälzt uns den Stein von des Gra­bes Tür?
– Evan­ge­li­um nach Mar­kus, Kapi­tel 16, 3

Es gibt eine Geschich­te, die jeder, der mich kennt, frü­her oder spä­ter zu hören bekommt, und die mir auch heu­te noch (ich tra­ge sie seit gut und ger­ne fünf­und­zwan­zig Jah­ren mit mir her­um) beim Erzäh­len bei­na­he genau so viel Spaß berei­tet, wie beim ers­ten Mal. Dabei ist sie, streng genom­men, weder beson­ders spa­ßig, noch habe ich selbst irgend­et­was dazu bei­getra­gen – wobei auch das wie­der nicht stimmt, denn auch die eige­ne Abwe­sen­heit kann mit­un­ter ein ent­schei­den­der Bei­trag sein. Man­cher Stein kommt erst ins Rol­len, wenn man zur Sei­te tritt.

Als Kind hat­te ich eine gan­ze Rei­he von Haus­tie­ren: Einen Wel­len­sit­tich, eine Kat­ze mit Dop­pel­na­men, einen Gold­hams­ter und ein schwar­zes Kanin­chen, das ich auf den Namen Hop­pel getauft hat­te. Ich weiß, es scheint nicht beson­ders ein­falls­reich, ein Tier, das sich hop­pelnd fort­be­wegt, eben so zu benen­nen – einem Sechs­jäh­ri­gen mag man das aber viel­leicht nach­se­hen. Das, was Hop­pel zu etwas Beson­de­rem mach­te, war, und damit grei­fe ich vor­weg, schluss­end­lich auch nicht der zu gewöhn­li­che Name, son­dern die – über­aus unge­wöhn­li­che – Fähig­keit, über Nacht die Far­be zu wech­seln: Schwarz am einen, weiß am nächs­ten Tag.

Wenn ich damals sechs Jah­re alt war, war mei­ne Schwes­ter kaum älter als zwei – ein klei­nes blon­des Mäd­chen mit was­ser­blau­en Augen, dem man ger­ne jed­we­de Form der Unschuld zuge­stand und das jed­we­des Zuge­ständ­nis gleich­wohl für sich zu nut­zen wuss­te. Das Zuge­ständ­nis, Hop­pel aus sei­ner Kis­te zu neh­men und damit die Geschich­te von den bei­den Hasen in Gang zu brin­gen, war indes nie offen aus­ge­spro­chen wor­den. Aber wel­che Zwei­jäh­ri­ge wür­de sich davon schon beein­dru­cken las­sen? Die­se nicht. »De’ hat mis dekratz’, da hab is’ des­la­gen«, sag­te die­se, als sie mit einem Hasen, der alle vie­re von sich streck­te, vor mei­ner Mut­ter stand, die augen­blick­lich begriff, dass jener nie wie­der jeman­den krat­zen kön­nen wür­de. Dass das Kanin­chen, das dar­auf­hin gekauft wur­de, weiß und nicht schwarz war (ein schwar­zes Kanin­chen war so schnell nicht auf­zu­trei­ben), wur­de damit begrün­det, dass jenes mich so schreck­lich ver­misst habe, dass es über Nacht weiß gewor­den sei. Und weil Sechs­jäh­ri­ge die Din­ge genau­so wenig hin­ter­fra­gen, wie sich Zwei­jäh­ri­ge von ihnen beein­dru­cken las­sen, habe ich für vie­le Jah­re fest dar­an geglaubt. Sechs­jäh­ri­ge brau­chen kei­nen zwei­ten Blick.

Die Oster­ge­schich­te ist vor allen Din­gen eine Geschich­te vom zwei­ten Blick, vom alles ver­lo­ren und alles gewon­nen – nicht vom Schwarz-Weiß-Den­ken, das uns viel zu oft um und dazu antreibt, Fel­sen vor ver­meint­li­che Grä­ber zu rol­len und anzu­neh­men, was man uns als Schwarz und Weiß ver­kauft. Man­ches ist wahr, weil es das ist, ande­res, weil wir es wahr­ha­ben möch­ten – und zu vie­les, weil man uns sagt, dass das Gesag­te der Wahr­heit entspricht.

Wenn ich ein Kanin­chen wäre, wel­che Far­be hät­te ich dann? Und wäre es für jeden die gleiche?

Wir wün­schen allen, die es angeht, fro­he Ostertage.

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