Über den Herbst, das Loslassen und Neuanfangen, über Hunde, über Menschen und die Angst vor dem Fallen …

Herr: Es ist Zeit. Der Som­mer war sehr groß.
Leg dei­nen Schat­ten auf die Sonnenuhren 
und auf den Flu­ren laß die Win­de los …
– »Herbst­tag«, Rai­ner Maria Ril­ke (1902)

Nell pro­tes­tiert lei­se, als ich den Fuß auf die ers­te Stu­fe set­ze. Ich wer­fe einen has­ti­gen Blick über mei­ne Schul­ter, sehe sie schwanz­we­delnd neben dem Pfos­ten sit­zen, an dem ich sie nur Augen­bli­cke zuvor ange­bun­den habe, sage: »Du bleibst!«, dann rich­te ich mei­nen Blick wie­der nach vor­ne. Die Stu­fen sind etwa einen Meter breit und durch die Trag­stä­be der Git­ter­ros­te fällt der Blick unge­hin­dert nach unten.

Die ers­ten zwan­zig Stu­fen neh­me ich ohne gro­ße Mühen, erst als ich die zwei­te Bie­gung errei­che und das Stahl­fach­werk den Blick auf die Baum­kro­nen frei­gibt, mel­det eine Stim­me in mei­nem Hin­ter­kopf laut­stark Beden­ken an. Mit bei­den Hän­den umfas­se ich die Hand­läu­fe und ermah­ne mich, nicht nach unten zu schau­en, nicht dar­über nach­zu­den­ken, dass mich aus der Tie­fe etwas mit lan­gen Fin­gern nach unten zie­hen will. Als ich die nächs­te Bie­gung errei­che bin ich bereits zwan­zig Meter über dem Boden, weit unter mir bellt es, und ich beschlie­ße, es dabei bewen­den zu las­sen. Über die Baum­kro­nen flu­tet gol­de­nes Licht, dahin­ter erah­ne ich Berg­rü­cken und flam­men­de Wäl­der, der Him­mel über mir ist auf­ge­ris­sen und die Wol­ken zer­flie­ßen in unste­ter Far­be. Blut pulst in mei­nen Ohren. Mit dem Blick zur Aus­sichts­platt­form, die noch immer zwei Bie­gun­gen von mir ent­fernt in drei­ßig Metern Höhe thront, schütt­le ich den Kopf. »Immer wei­ter«, sage ich zu mir selbst. Nell hat auf­ge­hört zu bellen.

Fal­len, den­ke ich, als ich die nächs­te Stu­fe neh­me. Den­ke, dass der Herbst im Eng­li­schen auch fall genannt wird, dass die Fall­be­schleu­ni­gung etwa 9,81 m/s² beträgt, und dass die letz­ten Wochen in man­cher­lei Hin­sicht sehr genau dem ähneln, was ich gera­de erle­be. Nach dem Aus­zug der Wel­pen holt jeden Züch­ter der All­tag irgend­wann erbar­mungs­los ein. Das, was die Tage aus­ge­füllt hat, macht kei­nen Sinn mehr, und statt sich mit ande­rem abzu­len­ken ist man ganz auf sich und die Fra­ge, wie viel man sich selbst noch zutraut, zurück­ge­wor­fen. Man fällt – kein Bild könn­te bes­ser passen.

Oben. Mit zit­tern­den Hän­den nest­le ich am Ver­schluss der Kame­ra­ta­sche. Ver­su­che, mich auf das Bild vor mir zu kon­zen­trie­ren, und nicht auf die drei­ßig Meter Luft unter mei­nen Füßen. Fokus­sie­re das, was ich mit­neh­me. Das, zu dem ich zurück­keh­re. Den Hund, der am Fuß des Turms auf mich wartet.

Man gibt nichts auf, das man als Teil sei­ner Selbst begreift.


Comments are closed.