Über das Sehen, das Ungesehene, das Gefühlte und ein wenig Unerhörtes: Die erste Wurfabnahme und die zweite Woche im Leben unserer Welpen.
Wenn zwei Menschen einen Baum betrachten, werden sie nie ein und denselben Baum dabei sehen. Der eine sieht, weil er als Kind oft ins Geäst eines solchen Baums geklettert ist, wo die Äste sich verzweigen, wo Hände und Füße sich um den Stamm winden und Halt finden können. Dem anderen wird vielleicht eher das versteckte Herz auffallen, dass das jüngere Selbst eines anderen vor vielen Jahren in die Rinde geschnitzt hat, und dabei an sein eigenes denken – und an Menschen, die längst im Schatten des Baums verschwunden sind. Was wir sehen ist nie, was wir sehen. Was wir sehen ist immer, was wir sind.
Wenn ein Welpe geboren wird, ist er blind und taub. Zwei Wochen verbringt er in einer Welt, in der alles Traum und nur der Geruch von Milch und Leben wirklich ist. Die Hand, die ihn hält, sieht er nicht – spürt aber wohl, dass sie warm und freundlich ist, und heimlich pflanzt sich die Erinnerung daran in seine Träume ein. Erinnert er das Gefühl, wenn er aufwacht? Sieht er mehr als zwei Arme und Beine? Sieht er uns, wie wir sind? Nicht nur als Menschen – sondern als Freund?
Als ich heute morgen hektisch durch das Haus lief – in der einen Hand einen Lappen, in der anderen eine halbvolle Tasse heißen Kaffee – um vor der ersten Wurfabnahme noch einmal schnell hier aufzuwischen, was dort verschüttet worden war, blieb ich wie vom Donner gerührt vor dem Welpenzimmer stehen: Allem Anschein nach war es an diesem Morgen nicht nur unsere Zuchtwartin, die sich vom Zustand der Welpen überzeugen wollte.
Das Welpengitter war nur angelehnt, erinnerte ich mich, und alle Hunde, die alt genug dafür waren, wusste ich im Garten – welcher Hund sollte das also sein, der schwanzwedelnd vor der Wurfkiste stand? Zwei Schritte weiter wusste ich: Es war Nell. Mit größter Sorgfalt wanderte ihre Nase von Welpe zu Welpe und verweilte nur dort, wo die mütterliche Zunge selbst nachlässig gewesen war. »So aber nicht«, schien ihr Blick zu bedeuten – und weil ein »So aber nicht« meist nichts Gutes verheißt, ließ ich sie schließlich grinsend gewähren. »Was vier Augen sehen, bleibt zweien verborgen« – und was alle zufrieden macht, kann so falsch nicht sein.
© Johannes Willwacher