7. November | 57. Trächtigkeitstag
Die Nacht war ruhig, aber rastlos. Von weich nach hart, vom Kopfkissen zum Fußende – wie man sich bettet, liegt man nicht lange. Die letzten Tage haben den Bauch zwar nur wenig weiter wachsen lassen, 74 Zentimeter machen aber nicht nur das Finden der vermeintlich besten Schlafposition zur Tour de Force. Jeder Spaziergang fordert Überredungskunst und wird, kaum hat man fünf Minuten Weg zurückgelegt, gleich wieder für beendet erklärt. Sechs Tage noch, vielleicht.
8. November | 58. Trächtigkeitstag
Meinen vorletzten Arbeitstag hatte ich mit einer unmissverständlichen Arbeitsanweisung an den Daheimgebliebenen begonnen. Einer Arbeitsanweisung, die zum einen besagte, was noch zu besorgen (Sagrotan und Vaseline), zum anderen, wann die Temperatur zu messen sei. Die Bedienung eines Thermometers scheint auch bei näherer Betrachtung keine allzu große Herausforderung darzustellen – einmal »Piep« reinstecken, zweimal »Piep« rausziehen – dass mancher mit der Frage, wie tief ein Fiebermesser einzuführen ist bisweilen überfordert sein kann, hat ein Anruf am frühen Nachmittag bewiesen.
»36,8 Grad«, erwiderte der Anrufer auf die Frage, wie das Befinden der Schwangeren sei. Binnen Sekunden hatte ich den Magen im Kopf, das Herz in der Hose und fast einen Fuß in der Tür. »Bist du dir sicher, dass du richtig gemessen hast«, fragte ich stotternd, »also so richtig, richtig?« Dem Nichtwissenden sei gesagt, dass die Körpertemperatur eines Hundes etwas oberhalb der menschlichen liegt, im Durchschnitt bei etwa 38 Grad. Bei einer trächtigen Hündin sackt dieser Wert kurz vor der Geburt auf unter 37 Grad ab. »Miss bitte in einer halben Stunde noch einmal«, meinte ich, »und achte darauf, dass du das Thermometer nicht nur auf gut Glück ins Fell bohrst«. Kurzes Aufstöhnen am anderen Ende. »Aber es war im Popo!«
»37,3 Grad«, lautete eine halbe Stunde später das Messergebnis. »Hat vorhin vielleicht an der Vaseline gelegen, die war ziemlich kalt«. Was soll man dazu noch sagen?
Beinahe fünf Kilogramm mehr trägt Nell mit sich herum, der Bauch, schon deutlich abgesackt, misst 77 Zentimeter. Die beiden kleinen Spaziergänge heute hat sie, in sehr gemächlichem Schritt, beinahe genossen. Das Aufstehen fällt ihr immer schwerer und auch das Putzen will nicht mehr so leicht gelingen. Ich tippe auf Sonntag, wer bietet mehr?
10. November | 60. Trächtigkeitstag
Nells Flanken sind deutlich eingefallen, die Welpenbewegungen sind von außen gut sichtbar – ungezählte Pfoten, die prasselnd zu verstehen geben, dass sie bereit sind das Licht der Welt zu erblicken. Die Suche nach einem geeigneten Versteck für ihre Welpen ist zwar, bis auf ein halbherzig ausgehobenes Erdloch in der Gartenhecke, ergebnislos verlaufen, die werdende Mutter scheint trotzdem verstanden zu haben, dass nicht mehr viel Zeit bleibt: Sie weicht mir keinen Schritt von der Seite!
11. November | 61. Trächtigkeitstag
Geduld heißt die Tugend der Stunde. Die Sonntagskinder, die nun doch keine werden, fahren unter meiner Hand munter Karussell – die Schwangere selbst hat die Ruhe weg und genießt es gestreichelt zu werden. Dass ich denen, die eifrig mit uns auf die Geburt ihres Welpen warten, gerne Besseres berichtet hätte, lässt sie – auch wenn wir uns bereits durch die eine oder andere Senkwehe gehechelt haben – weiter unbeeindruckt. Warten wir also ab, was der Tag bringt.
12. November | 62. Trächtigkeitstag
Achthundert Meter in der Abenddämmerung – die Straße hinauf, die Straße hinunter – und kaum auf dem Gehsteig argwöhnt man, der Weg sei zu weit und das in Aussicht gestellte Abendessen schmecke ganz sicher auch ohne den Spaziergang in Anführungszeichen. Sämtliche Überredungskünste lassen sie schließlich ein Gänsefüßchen vor das andere setzen – die letzten Sonnenstrahlen glänzen golden über den Dächern – und mit Ach und Krach schaffen wir es, die ansonsten eher kurzweilige Runde bei Einbruch der Dunkelheit zu beenden. Das Abendessen lässt man sich durchaus noch schmecken, danach wird aus heiterem Himmel ein heiserer Gesang angestimmt und Unruhe bricht aus. Bauch an Rücken hecheln wir uns durch eine weitere Senkwehe, die zwar nur zögerlich abebbt, aber vorerst folgenlos bleibt: Bei 37,9 Grad und im Bewusstsein, dass für Bauch und Babies kein Grund zur Sorge besteht, geht es brav zu Bett.
Der Morgen beginnt mit 37,1 Grad – der bisherige Tiefstwert – bleibt abzuwarten, ob er in den kommenden Stunden noch weiter sinkt.
Kurz vor neun ist die Temperatur auf 36,8 Grad gesunken – unsere Welpen machen sich heute auf den Weg. Nell ist noch entspannt, kein Hecheln, keine Unruhe – das Frühstück hat sie zwar bereits verschmäht, bis zum Mittag ist die Temperatur aber weiter gesunken bis auf 36,6 Grad. Am Nachmittag hat leichtes Hecheln eingesetzt und Nell sich ins Schlafzimmer verkrochen. Gegen Abend ist die Temperatur schließlich, nachdem sie vorerst wieder angestiegen war, auf 36,5 Grad gesunken – der Tiefpunkt, in den nächsten vierundzwanzig Stunden sollten unsere Welpen zur Welt kommen. Wir warten ab und werden die Nacht wohl mit Hecheln verbringen.
13. November | 63. Trächtigkeitstag
Es ist kurz nach fünf. Die Wurfkiste wurde während der Nachtstunden immer wieder auf links gedreht, Nell jammert und hechelt und findet keine Ruhe: Von der Wurfkiste zum Gästebett, dann heult man sich weiter zur Tür – drei Schritte im Vorgarten, zwei Tropfen, kaum mehr, ein unentschlossener Blick, dann zurück in die Laken. Die Temperatur ist leicht über 37 Grad gestiegen, die Eröffnungsphase zieht sich, wir warten weiter.
Um Sicherheit zu haben, dass mit Mutter und Kindern alles in Ordnung ist, sind wir, den Kofferraum mit Decken ausgekleidet, gegen halb elf kurzentschlossen zu unserem Tierarzt gefahren. Kurzes Abtasten, ein Blick auf den Muttermund, schließlich ein Ultraschall: Den Welpen geht es gut, die Herzen schlagen schnell und kräftig, die Mutter derweil scheint noch Zeit zu brauchen.
Wieder wird es Abend, es ist halb sieben. Nell sitzt in der Wurfkiste und hechelt angestrengt, liegen mag sie nicht mehr. Der Tierarzt steht uns telefonisch zur Seite, meint, keine Presswehen – nichts im Geburtskanal – kein Grund zur Sorge, auch wenn das Warten zermürbt.
© Johannes Willwacher