Zwei Menschen, zwei Border Collies und eine Hand voll Zukunft: Wir ziehen um – der Hunde wegen – zurück auf’s Land, zurück in die Heimat, zurück in den Westerwald …
»Lieber tot, als Rennerod«. Ich glaube, ich muss etwas sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als mir der Name einer Kleinstadt im Westerwald zum ersten Mal begegnete. Dabei wirkten weder die rote Sprühfarbe, mit der jemand dem grauen Beton der Bushaltestelle eine eigene Stimme verliehen hatte, noch diese Stimme selbst besonders vertrauenserweckend: Wenn es die bessere Wahl schien zu sterben als in Rennerod zu leben, dann musste Rennerod zwangsläufig ein sehr, sehr böser Ort sein.
Das Verhängnisvolle an Vorurteilen ist, dass es leichter fällt sich in ihnen einzurichten, als sie zu widerlegen. Dem Westerwälder wird gemeinhin gerne ein Basaltkopf nachgesagt – ein sturer Dickschädel, der aufgrund seiner schwergewichtigen Beschaffenheit wohl eher eine Last, als eine Zierde ist. Was wenig freundlich klingt, darf auch für das Stimmungsbild gelten, dass, einmal entworfen, von vielen bemüht wird, um den Westerwald selbst zu beschreiben: Vom kalten Wind ist da die Rede, von neun Monaten Winter und drei Monaten Frost, von kargen Höhen – und Zwetschgen, die zwei Jahre brauchen um zu reifen. Dort, wo sich Fuchs und Hase längst »Gute Nacht« gesagt haben, pfeifen nur noch Wind und Wetter – von letzterem gibt es reichlich und nicht unbedingt das Beste – und wer sich hier niederlässt, das wussten schon die Amtsschreiber vor zweihundert Jahren, der flieht nicht nur der Welt, sondern hat selbige bereits hinter sich gelassen.
Dem Hasen ist nicht wohler, als wo er geworfen ist
Was »Zuhause« ist, was »Heimat« bedeutet – ohne den großväterlichen Gedanken an volkstümelnde Gemütlichkeit, ohne das Gefühl, nicht aufgeklärt zu erscheinen – ist eigen, konturlos. »Heimat« ist nicht das Dorf, das irgendwann einmal den Beschluss fasste etwas Neues werden zu müssen, um den Geruch des Alten abzulegen (1963 entschied die Gemeinde Kotzenroth im Westerwald – nach Jahrzehnten, in denen man unter dem anrüchigen Namen gelitten und einigen Jahren weniger, in denen man um einen Neuen gestritten hatte – sich fortan »Rosenheim« zu nennen), das Dorf in dem ich aufgewachsen bin – das sind viel eher die hohen Wolken, die Luft, die nach Wald und Erde riecht, Hundegebell und moosgrüne Hosenbeine. Kindheitslandschaften, vielleicht. Ruhe.
Zwei links, zwei rechts. Zwischen den Fahrstreifen ein Flecken betoniertes Grün, dröhnende Motoren, die Haltestelle daneben. Zweihundert Meter zur Autobahn, in zwanzig Minuten in der Stadt. Nachts, wenn das Rauschen schwächer wird, surren Straßenleuchten im schlaflosen Takt – zwei links, zwei rechts – und darüber seufzen die Triebwerke. Das Fahrwerk wird ausgefahren. Aus heruntergekurbelten Autofenstern pumpen aufdringliche Bässe, der Wecker klingelt in drei Stunden, das Kopfkissen streikt. Gegen fünf flutet das Rauschen aufs neue die Straßen. Asphalt, rollende Reifen. Ein Stimmengewirr – dreisprachiges Dezibel – hinter den Augen brennt es, die Straße ist in meinem Kopf, das Kissen bleibt liegen. Wohnst du noch, frage ich mich, oder würgst du schon? Das Bad ist gekachelt, weiß, die Wohnung klassisch geschnitten. Altbau, vier Zimmer, kein Stuck, aber Dielen. 110 m² guter Geschmack mit Garten. In zwanzig Minuten in der Stadt, nur zwei Schritte zum Wahnsinn.
»Weil die Mieten günstiger sind«. Wer sich, so wie wir vor drei Jahren, in Frankfurt auf Wohnungssuche macht, muss tiefer in die Tasche greifen, um sich den Traum von der großen Altbauwohnung zu erfüllen. Wie man sich bettet, so liegt man. Und: Eine schlechte Wohnung macht brave Leute verächtlich – das wusste schon Goethe. Während dieser sich, als waschechter Frankfurter, wohl gerne auch auf das gängige Vorurteil verlassen hätte, dass der Schritt über die Stadtgrenze dabei schwerlich in Betracht gezogen werden kann, rannten wir offene Türen ein. Zweifelsohne, kaum einer anderen deutschen Stadt hängt so sehr der Ruf des Randständigen an, wie Offenbach – einer von drei Bürgern ist Ausländer, einer von sieben lebt von Hartz IV – und schon auf den ersten Blick bestätigen alte und neue Bausünden, warum die Stadt als Paradebeispiel stadtplanerischen Scheiterns gilt: Die hässliche kleine Schwester der Bankenmetropole macht, so scheint es, keinen Fehler nur einmal. Die schönen Seiten zu entdecken fällt schwer – aber es gibt sie: Blökende Schafe auf der Hafeninsel, wild wuchernde Pfade auf der Rosenhöhe, die Felder um die Bieber – die Menschen. Denn dort, wo man einem andernorts mit verschränkten Armen und erhobener Nase begegnet, ist man in Offenbach einfach Mensch. Dort, wo man sich andernorts nur in den vertrauten, kleinen Kreisen bewegt, stehen in Offenbach der Arbeitslose, der Rechtsanwalt und die Kassiererin beieinander – wer du bist ist nicht entscheidend, viel mehr wie du bist. Diese Offenheit werden wir mit uns nehmen – um an kindlichen Vorurteilen zu arbeiten, vielleicht.
Hin und wieder zurück
Während ich hier sitze und schreibe türmen sich Umzugskartons in schwindelnde Höhen. Es wird gehämmert, geschraubt, manches verschwindet, anderes bleibt – und zwischendrin stecken die Hunde neugierig die Nasen in eine Flut von zerknülltem Papier. Riecht so das Landleben? Riecht so Zuhause? Die eine Nase zuckt keck, die andere gräbt sich tiefer in das Sammelsurium aus Büchern, Hausrat und Erinnerungsstücken – sucht nach Vertrautem, nach Sicherheit. Nein, nach Urlaub riecht das nicht. Urlaub lässt keine Dinge verschwinden, die immer ihren Platz hatten, die immer ein Versteck für den hastig angenagten Kauknochen, das heißgeliebte Spielzeug oder die heimlich aus dem Wäschekorb gemopsten Socken boten. Die Tür knarrt. Vier Pfoten drängen fragend durch den Spalt. Mein Gewohnheitstier. In Wolkenkuckucksheim wollen neue Verstecke entdeckt, neue Schätze erobert werden – denke ich und strecke zuversichtlich die Hand aus.
Unser Haus steht dort, wo der Wind über die Höhen pfeift. Wo sich Wolken, Kuckuck, Hase, Fuchs und Igel zuweilen »Gute Nacht«, viel eher noch »Ich bin schon da« sagen. Stein, Schiefer, Holz – genug Platz für zwei Menschen, zwei Border Collies und eine Hand voll Zukunft. Vom Fenster aus kann ich Wald, Wiesen und Felder sehen. Irgendwo bellt ein Hund. Zuhause angekommen zu sein ist ein schönes Gefühl.
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