Die Abenddämmerung bringt nicht nur die Nacht, sondern auch das unvermeidliche Ende: über Abschied und Akzeptanz in der achten Lebenswoche.

Kaum dass die ein­mo­to­ri­ge Maschi­ne auf dem Roll­feld zum Ste­hen gekom­men ist, reicht Bob einen zusam­men­ge­fal­te­ten wei­ßen Zet­tel an Rudy. Er sagt dabei kein Wort. Schon am Mor­gen, als sie in Mexi­co-Stadt auf­ge­bro­chen sind, um zurück an das Film­set im staub­tro­cke­nen Duran­go zu flie­gen, hat­te der Musi­ker sich wort­karg gege­ben. Auch wäh­rend des knapp zwei­stün­di­gen Flugs hat­te er kaum ein Wort gespro­chen, nur ein­mal ver­schnupft nach Stift und Papier ver­langt und die übri­ge Zeit damit ver­bracht, das besag­te Papier mit Wor­ten zu fül­len. Unbe­se­hen will Rudy das­sel­be gera­de in sei­ne Man­tel­ta­sche ste­cken, als Bob unter sei­nem breit­krem­pi­gen Hut her­vor­lugt und mit näseln­der Stim­me schließ­lich doch zu spre­chen beginnt. »Ich habe einen Song geschrie­ben«, sagt er. »Für die Sze­ne, die mor­gen gedreht wer­den soll. Die, in der Slim Pickens stirbt.«

Der vier­und­fünf­zig­jäh­ri­ge Slim Pickens ist einer der Schau­spie­ler, die Sam Peckin­pah in Pat Gar­rett jagt Bil­ly the Kid besetzt hat, der im Win­ter 1972 am Fuß der Sier­ra Mad­re im Wes­ten Mexi­kos gedreht wird. Rudy Wur­lit­zer hat das Dreh­buch für den Wes­tern geschrie­ben, in dem James Cob­urn und Kris Kris­toff­er­son die Haupt­rol­len spie­len. Weil Letz­te­rer gut mit Bob Dylan bekannt ist – 1965 hat Kris­toff­er­son als Aus­hil­fe in den Colum­bia Recor­ding Stu­di­os in Nash­ville gear­bei­tet, in denen die Auf­nah­men zu Dylans drit­tem Album Blon­de on Blon­de statt­fan­den –, steht auch die­ser auf der Beset­zungs­lis­te. 

Züchter mit einem Border Collie Welpen bei Sonnenuntergang
That cold black cloud is comin’ down

Der Depu­ty hat sich hin­ter einer Bruch­stein­mau­er ver­schanzt. Im Kugel­ha­gel wird er den­noch getrof­fen. Mit schmerz­ver­zerr­tem Gesicht hält er sich den blu­ten­den Bauch. Wäh­rend er sich auf­rafft und mit letz­ter Kraft zum Fluss­ufer schleppt, wird auch sei­ne Frau auf ihn auf­merk­sam, die sich mit erho­be­nem Gewehr vor dem Farm­haus auf­ge­baut hat. Erschüt­tert lässt sie das­sel­be sin­ken und läuft ihm hin­ter­her. Der Him­mel über ihnen hat schon sei­nen Glanz ver­lo­ren, das Gold des Son­nen­un­ter­gangs ist über den schwe­ren Wol­ken in ein nächt­li­ches Blau über­ge­gan­gen. Am Ufer ange­kom­men lässt sich der Depu­ty auf einen Stein sin­ken, den Blick auf das Was­ser gerich­tet, das ruhig vor ihm fließt. Er strahlt die­sel­be Ruhe aus, hat das Unaus­weich­li­che längst ange­nom­men. Das spie­gelt sich auch im Blick sei­ner Frau, die ihn bei­na­he erreicht hat, als ihr die Bei­ne ver­sa­gen. Ein Blick, der vol­ler Lie­be und Sehn­sucht, aber auch Ver­ständ­nis ist. Statt das Ende aller Din­ge zu fürch­ten, begrü­ßen es bei­de. Und über all dem schwillt »Kno­ckin’ on Heaven’s Door an«. Ein Lied. Eine Geschich­te. Ein Gefühl.

Züchter mit einem Border Collie Welpen bei Sonnenuntergang
It’s get­ting dark too dark to see

»Ich könn­te das ja nicht, züch­ten, mei­ne ich«, sagt sie, und ich ahne schon, was als Nächs­tes kommt. Zu oft habe ich ähn­li­che Gesprä­che geführt, und zu oft den immer glei­chen Ein­wand gehört. »Ich könn­te kei­nen Wel­pen abge­ben«, neh­me ich des­halb auch dies­mal in Gedan­ken vor­weg, »ich müss­te alle behal­ten«. Dass nur jemand so den­ken kann, der nie­mals selbst einen Wurf groß­ge­zo­gen hat – der nur die schö­nen und sau­be­ren Sei­ten der Wel­pen­auf­zucht kennt und nicht die lan­gen Tage und kur­zen Näch­te – behal­te ich für mich. Statt­des­sen nicke ich nur und gelei­te sie zum Gartentor.

Es wird Abend. Die Son­ne steht tief über den Hügeln und wirft lan­ge Schat­ten über den Gar­ten. Der Him­mel leuch­tet in Far­ben, die mir immer schon zu groß erschie­nen: sat­tes Gold, tie­fes Oran­ge bis hin zu einem schwer­mü­ti­gen Vio­lett. Wäh­rend das Licht lang­sam schwin­det, schleicht sich ein schwe­res Gefühl her­an, als zöge etwas Dunk­les in der Fer­ne auf. Der Tag stirbt lang­sam und mit ihm die Zeit, die ich noch mit die­sem Wurf ver­brin­gen darf. Ich sit­ze auf der abge­nag­ten Holz­pa­let­te, die mit­ten auf dem umzäun­ten Wie­sen­stück steht, eine Hand locker auf dem Knie, die ande­re strei­chelt den Kopf eines der Wel­pen, der sich an mich lehnt. Sein Fell ist weich und warm von der Son­ne. Er ahnt nicht, was auf ihn zukommt.

Die ande­ren ren­nen noch immer durch den Gar­ten, wild und unbe­küm­mert. Die klei­nen Kör­per tau­meln durch das hohe Gras, die Augen vol­ler Unschuld. Sie kämp­fen, jagen sich, fal­len hin und ste­hen wie­der auf, als hät­ten sie ewig Zeit. Für sie gibt es kei­ne Zukunft, kein Ende, nur die­sen Augen­blick, die­ses Spiel. Aber ich weiß es bes­ser. Ich weiß, dass ihre Zeit hier zu Ende geht. 

Züchter mit einem Border Collie Welpen bei Sonnenuntergang
Feels like I’m kno­ckin’ on Heaven’s door

Das ist nicht mein ers­ter Wurf und wird wohl nicht mein letz­ter sein. Jeder Wurf ist anders, aber der Moment bleibt der­sel­be. Jede Bewe­gung, jedes Geräusch brennt sich in mein Gedächt­nis ein. Ich sage mir, dass ich es gewohnt bin, los­zu­las­sen. Aber die Wahr­heit ist: Man gewöhnt sich nie dar­an. Die ers­ten Tage ohne sie wer­den still sein, zu still.

Aber das Los­las­sen gehört dazu, wie der Abend zum Tag. Man kann sich dem nicht ent­zie­hen. Die Wel­pen müs­sen gehen, sie müs­sen ihre eige­nen Wege fin­den, neue Men­schen ken­nen­ler­nen. Und ich muss ihnen das geben. Die Frei­heit, ihr eige­nes Leben zu begin­nen. Nach­denk­lich schaue ich auf die Klei­nen, die sich erschöpft im Gras nie­der­las­sen, und mei­ne Gedan­ken flie­ßen zu jedem von ihnen. »Ich habe euch nichts mehr zu geben«, sage ich mir lei­se, »ihr habt alles, was ihr braucht. Ihr seid bereit. Es ist Zeit, eure Rei­se zu begin­nen«. 

Es ist schwer, die Tür zu schlie­ßen, aber ich weiß, dass es not­wen­dig ist. Sie sind bereit, auch wenn ich es viel­leicht nicht bin. Ich muss das Ende anneh­men, es umar­men, es will­kom­men hei­ßen. Damit ihr Leben ohne mich begin­nen kann. Damit mei­nes zu mei­nem zurück­fin­det. Und damit, irgend­wann, alles von Neu­em begin­nen kann.

Das letzte Fotoshooting

Die 8. Lebenswoche


© Johannes Willwacher